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Heute ist ein merkwürdiger Tag in der Praxis gewesen. Zum Merken würdig. Ich glaube, dass die Tatsache meiner eigenen Vaterschaft mich sehr sensibel dafür gemacht hat, wenn Kinder mit in die Praxis kommen. Heute saß ein Geschwisterpärchen (10 und 14 Jahre alt) mit ihrer Mama vor mir. Die Mutter erzählte mir, dass der Vater aktuell in einem Hospiz untergebracht sei, da das Pankreaskarzinom, an dem er litt, sehr weit fortgeschritten sei und er nur noch wenige Tage wohl zu leben habe. Die Kinder hatten sich bis heute nicht getraut ihn dort zu besuchen.

Die Kinder saßen wie paralysiert vor mir und schauten mich kaum an. Ich erbat mir von der Mutter mit jedem Kind etwas Zeit allein reden zu können.

Zuerst saß ich mit der 14-jährigen Tochter Wiebke zusammen, während Mutter und Sohn im Vorzimmer 4-Gewinnt spielen konnten.

Das Mädchen veränderte sich, als sie nur noch mit mir im Zimmer war. Zum ersten Mal sah sie mich erwartungsvoll an.

Ich begann einfach zu erzählen:

„Ich habe auch 3 Kinder und meine jüngste Tochter ist genau so alt wie Du. Wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt mit solch einer Krankheit im Hospiz läge, dann müsste ich dauernd an meine Kinder denken. Ich würde mir wünschen, dass sie es sich trotz meiner Krankheit gut gehen ließen. Wir haben oft darüber gesprochen, wie es ist zu sterben, da wir die Oma, die Mutter meiner Frau, verabschieden mussten. Sie hatte auch Krebs. Wir haben uns damals den Film „Hinter dem Horizont“ angeschaut. Kennst Du den?“ als sie verneinend den Kopf schüttelt erzähle ich weiter: „Okay, da wird sehr schön geschildert, wie es mit uns auf der anderen Seite weitergeht. Wie unsere Seele den Körper verlässt und wir erst einmal uns orientieren müssen. Auch der Versuch, auf sich aufmerksam zu machen und die Angehörigen davon zu überzeugen, dass die Seele weiterexistiert, wird sehr deutlich gezeigt in diesem Film. Danach kommt jeder in seinen eigenen Himmel, der von den Nachtoderwartungen des Menschen geprägt ist. Wie würdest denn Du Dir Deinen Himmel vorstellen?“ 

Nach kurzem Zögern erzählt mir Wiebke, dass sie im Religionsunterricht mal den Auftrag hatten den Himmel zu malen. Sie hatte eine schöne Wiese gemalt auf der sie ihre Urgroßmutter, die sie sehr gemocht hatte, wiedertreffen würde. Bei diesem Bericht beginnt sie plötzlich zu weinen. Sie erzählt, dass sie lange an die „Uri“ denken musste, bis sich der Schmerz langsam gelegt hätte.

„Ohh, ich glaube, dass ich jetzt vielleicht etwas ahne, warum Du nicht ins Hospiz zu Deinem Papa gehen möchtest.“ Danach schwieg ich einfach.

Nach kurzer Pause beginnt Wiebke zu erzählen:

„Ich habe immer viel mit Papa gemacht. Er hat mich seinen Sonnenschein genannt. Er hat mir auch erzählt, dass wenn er einmal gehen müsste er auf der anderen Seite seine Oma, meine Uri treffen würde. Sie wären dann wieder vereint und würden dann nach mir schauen und mir helfen, so wie es die Uri auch heute schon allein täte. Ich kann mir das aber gar nicht so richtig vorstellen, wie das gehen soll.“

„Okay, vielleicht kann ich Dir dabei helfen. Was meinst Du?“

Sie nickt kurz und ich frage sie, ob sie sich vielleicht ihre Uri gerade vorstellen kann, vielleicht auch mit geschlossenen Augen. Sie nickt und schließt die Augen. Ich frage sie, wie die Uri, denn gerade schaut und wie sie gekleidet ist?

„Sie hat ihre grüngemusterte Küchenschürze an und lächelt mich an. Sie streckt ihre Hand aus und ich setze mich zu ihr an den Küchentisch. Hier haben wir immer gesessen, wenn wir etwas besprochen haben.“

„Frag sie doch einmal, ob sie einen Tipp hätte für Dich und Deinen Vater?“

„Sie sagt, dass mein Papa mich vermisst und sich sehr freuen würde, wenn ich ihn besuchen käme. Als ich ihr erkläre, dass ich aber einfach Angst habe ihn so schwach zu sehen, wie Mama ihn gerade beschreibt, sagt sie mir, dass sie bei mir wäre und mich begleiten würde. Ich soll einfach fest an sie denken. Sie legt die Hand auf meine rechte Schulter und das tut mir gut. Es gibt mir Mut.“

„Prima! Kannst Du Dir jetzt vorstellen zu Deinem Papa zu gehen und die Uri mit bei Dir zu haben?“

„Ja, das fühlt sich nicht mehr so schlimm an, ich bin ja nicht allein. Aber wie ist das denn, ist das denn nicht nur Einbildung?“

„Und wenn es nur Einbildung wäre, fühlt es sich trotzdem gut an?“

„Ja.“

„Na dann ist es doch egal, Hauptsache es hilft Dir, wenn Du Dir solche „Einbildungen“ machst.“

„Stimmt.“

„Okay, was wirst Du tun?“

„Ich sprech‘ mal mit Mama darüber, ob sie mich mitnimmt ins Hospiz. Ich glaube Papa wird sich freuen.“

„Das glaube ich auch. Schickst Du mir Deinen Bruder rein?“

„Ja, das mache ich, es geht mir schon besser jetzt, vielen Dank!“

Sie verlässt schnell das Besprechungszimmer und ich muss nicht lange warten, als es laut vernehmlich an der Türe klopft. Der kleinere Bruder Maximilian kommt herein und setzt sich sofort in den Einzelsessel, auf dem ich eigentlich immer sitze. Ich muss innerlich lächeln über dieses untrügliche Gespür für den besten Platz im Raum. Ich überlasse ihm gerne den Platz und warte einfach ab, denn der kleine Maximilian hat ja jetzt den Chefsessel inne. Er schaut sich erst einmal im Besprechungszimmer um und sein Blick bleibt auf einem Bild hängen, das einen Steg zeigt, im Sonnenuntergang. Es sieht so aus, als würde der Steg in die Sonne führen.

„Die Mama sagt, dass Papa ins Licht geht.“

„Ja, das glaube ich auch.“

Wir schweigen weiter. Es ist deutlich, dass der kleine Mann gerade in einem inneren Suchprozess ist. Ich bleibe einfach präsent bei ihm.

„Wie lange wird Papa noch dableiben können?“ fragt er nach einer guten Weile.

„Das weiß nur der liebe Gott, wann es Zeit wird ihn abzuholen. Ich glaube aber, dass es nicht mehr allzu lange sein wird. Willst Du ihn nochmal treffen?“

„Ich weiß nicht…“ antwortet er sehr in sich gekehrt.

„Wovor fürchtest Du Dich denn?“

„Mama hat gesagt, dass Papas Körper sehr dünn ist und er schon gar nicht mehr so aussieht, wie ich ihn kenne. Ist das denn noch mein Papa?“

„Meine Erfahrung ist, dass Dein Papa jetzt schon immer länger über den Steg geht und nur ab und zu in seinem Körper ist. Manchmal warten die Menschen noch auf jemanden, der ihnen einen Abschiedskuss gibt oder einfach die Hand drückt und dann können sie endgültig über den Steg zu gehen.“

„Meinst Du, dass Papa auf mich wartet?“

„Das weiß ich nicht, aber wenn ich Dein Papa wäre, dann wäre ich sehr froh, wenn ich meinen Jungen noch einmal sehen könnte. Was meinst denn Du?“

„Ich glaube auch, dass er auf mich wartet.“

„Hast Du denn schon einmal jemanden gesehen, der am Sterben ist?“

„Nein, nur mein Hamster lag einmal morgens in seinem Käfig. Er hat sich ganz komisch angefühlt. Gar nicht mehr so wie mein Hamster, nur so ne leere Hülle. Aber manchmal träume ich von ihm und dann habe ich das Gefühl, dass er im Hamsterhimmel ist. Wird Papa auch dorthin gehen?“

„Oh er wird sicherlich im Himmel sein, aber es wird sein eigener Himmel sein und ob ihm dort Hamster oder Dein Hamster begegnen, hängt davon ab, ob er sie im Leben geliebt hat oder nicht.“

„Oh, dann wird mein Papa in einem Computerhimmel sein, den hat er ganz besonders lieb. Mama ist schon ganz sauer gewesen, weil er immer da hineingestarrt hat. Und dann hatte er auch keine Zeit mehr für mich.“ Maximilian senkt die Stimme und beginnt zu schluchzen. „Er hat schon lange nicht mehr mit mir gespielt!“ Dann wird er still.

„Macht Dich das wütend?“

„Ja, aber das darf ich doch nicht.“

„Wieso darfst Du das nicht sein? Wut ist ein wichtiges Gefühl und wenn die Wut unterdrückt ist, dann kann die Liebe auch nicht fließen.“

„Soll ich ihm das sagen?“

„Wenn es Dir wichtig ist und es gesagt werden muss, damit es nicht mehr zwischen Euch steht, dann ja!“

Maximilian steht plötzlich auf, er hat eine ganz andere Ausstrahlung und will nur noch raus.

Ich rufe ihm noch hinterher, dass er gerne wiederkommen kann, wenn er das möchte.

Die Mutter schaut nochmal kurz zur Tür hinein und sagt nur kurz Danke. Sie will jetzt mit den Kindern ins Hospiz fahren.

Ich bin sicher, dass dort viel Gutes passieren wird und bin auch gerührt über diesen Besuch, der sicherlich zum Merken würdig war.

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