In meiner Praxis sind heute Herr und Frau Morgenroth zu Besuch. Herr Morgenroth wurde vor wenigen Tagen am Kopf wegen eines Glioblastoms operiert. Er wirkt noch etwas müde, aber beide wollten den Termin wahrnehmen. Sie haben davon gehört, dass es sein kann, dass familiäre Bedingungen ein Tumorwachstum bedingen können. Sie wollten diese Information mit mir besprechen, insbesondere ob gerade auch in ihrem Familiensystem solche „Ursachen“ vorhanden sein könnten.
Ich hole mit den systemischen Aspekten einer Erkrankung also etwas aus.
Ich beginne damit, dass niemand genau wissen könne, was woher kommt – es sei denn es wird direkt beobachtet, wie das bei einem Verkehrsunfall beobachtbar ist. Krebs ist aber immer ein multifaktorielles Geschehen. Es kommen also viele Ursachen für eine Krebserkrankung in Frage. Natürlich ist es gut, wenn man Faktoren, die günstig für eine Krebsentstehung sind, ausmerzt oder zumindest verringert. Das beginnt schon bei der Ernährung (Vermeidung zum Beispiel von Omega 6 Fettsäuren oder Zucker), Bewegungsarmut, Übersäuerung durch Rauchen oder zu viel Stress.
Systemische Aspekte
Über den Stress kommen wir zu den systemischen Ansätzen. Wir sind alle in einem Familiensystem großgeworden. Wir alle haben vielleicht noch unsere Großeltern, manchmal sogar Urgroßeltern, kennengelernt. Diese haben natürlich ein vollkommen anderes Schicksal zu tragen gehabt, als wir es in der heutigen Zeit. Mittlerweile gibt es tatsächlich Forschungen, dass in unseren Genen Informationen stecken, die uns mit all dem Grauen und den Ängsten der Vorgängergenerationen verbinden. Wir haben praktisch unsere Ahnen auch genetisch in uns stecken.
Natürlich waren wir in unserer Kindheit den Situationen, Weltsichten und Problemen unserer Eltern und eventuell Großeltern unmittelbar ausgesetzt. Daraus haben sich in uns Glaubenssätze über das Leben herausgebildet, die auch heute unser Leben beeinflussen. Dieses System, Familiensystem, wirkt also auch heute noch, auch wenn wir vielleicht eine eigene Familie (wie die Familie Morgenroth) gegründet haben und meinen, dass wir die Herkunftsfamilie hinter uns gelassen haben.
Was kann in einem (Familien-)System wirken?
Die Oma hat zum Beispiel ihren Mann im Krieg verloren und musste ihre Kinder alleine aufziehen. Sie war innerlich verhärtet, weil der Verlust ihres Mannes sie sehr geschmerzt hat. Sie konnte auch ihren Kindern keine Liebe geben und diese verarmten emotional. Das hat natürlich auch wieder Auswirkung auf die eigenen Kinder, also Dich!
Daher wird zuerst einmal ein Genogramm erstellt, also eine Art Stammbaum, in dem alle wichtigen Fakten (Heirat, Kinder, Krankheiten, Vertreibungen, Vergewaltigungen, Adoptionen, Abtreibunge u.s.w.) eingetragen werden.
Dadurch sieht jeder Klient erst einmal optisch und gehäuft, welchen Wirkkräften über das System er unterliegt. Allein das Anschauen des eigenen Genogramms kann schon sehr viel bewirken. Vielleicht fällt auf, welchem Ahnen man selbst ähnelt, oder wo Schicksale ähnlich sind, zum Beispiel auch durch gehäufte Krebserkrankungen in bestimmten Linien des Genogramms.
Solche Wirkkräfte aus dem System heraus wirken in den meisten Fällen sehr unbewusst auf den Menschen ein und erzeugen negative Auswirkungen im Lebensalltag. Daher ist das Genogramm ein wichtiger erster Schritt, um das Wirkgeflecht des Systems zu visualisieren. Ein nächster Schritt könne eine Familienaufstellung oder die Arbeit mit Figuren als Stellvertreter sein.
Familienaufstellungen in der Systemischen Beratung
In einem Aufstellungsseminar sind mehrere Personen anwesend, die für einen Aufstellungswilligen als Stellvertreter für seine Familienmitglieder zur Verfügung stehen.
Nun stellt der Aufstellende diese Stellvertreter im Raum so auf, wie er Nähe und Distanz innerhalb seiner Familie empfindet. Da kann es sein, dass die Eltern vielleicht auch einmal ganz weit auseinanderstehen und sich gar nicht anschauen. Diese Zerrissenheit trägt der Klient natürlich auch als Anspannung in sich mit herum und es wird Zeit dies zu lösen.
Nun werden die Stellvertreter in ihren Rollen als Familienmitglieder vom Aufstellungsleiter interviewt, wie es ihnen an diesen Plätzen geht und ob es Bewegungsimpulse gibt.
Aus den Aussagen kann erkannt werden, was verborgene Impulse oder Gründe sind, dass diese Familie so steht, wie sie steht.
Der Aufstellungsleiter arbeitet nun so lange mit dem System bis jeder an einem Platz steht, der seiner Position im System gemäß ist und sich gut anfühlt. Diese positive Endstellung hat sofort Auswirkung auf den Aufstellenden und wirkt auch über energetische Felder auf das wirkliche Familiensystem. Diese Außenwirkungen sind sehr oft beschrieben worden und werden immer wieder wie ein Wunder wahrgenommen. Aber es kann sein, dass sich unvermittelt ein Mensch aus dem System meldet und alle alten Zwistigkeiten sind plötzlich verschwunden. Und noch vieles mehr kann für den Klienten passieren.
Ähnlich kann man natürlich mit Figuren aufstellen, wir nennen das die Arbeit am Familienbrett. Dabei werden dann die Figuren auf dem Brett zu Stellvertretern und durch das Berühren der Figuren entsteht die „repräsentative Wahrnehmung“.
Herr Morgenroth schlägt an diesem Punkt die Hände über dem Kopf zusammen und drückt deutlich seinen Unmut aus, dass ihm das jetzt zu theoretisch wäre und er müsste jetzt dringend etwas Praktisches arbeiten. Ich schlage ihm vor, dass wir einfach mit seinem Genogramm anfangen könnten, was er sofort annimmt. Wir erarbeiten zusammen am Flipchart seine Familienkonstellation. Als wir zu seinem Großvater kommen, der in der Ardennenschlacht einen Kopfschuß bekam und überlebte, aber seitdem, bis zu seinem Tod im Jahre 1972, immer über Kopfschmerzen klagte, wird Herr Morgenroth plötzlich ganz still und beginnt zu weinen. Er ist durch die Erinnerung an das Schicksal seines Großvaters sofort mit seiner eigenen Kopferkrankung in Resonanz gegangen.
Ich lasse ihn, nachdem sich seine spontanen Gefühle gelegt haben, aus meinen Spielfiguren, die immer in meiner Praxis herumstehen, einen Opa und eine Figur für sich heraussuchen und auf einem Beistelltisch in räumliche Beziehung zueinander bringen. Erst ist ein großer Abstand zwischen beiden Figuren und der Klient erzählt wie er als Kind den Opa leidend erlebt hat und niemals so werden wollte wie er. Während er dies näher ausführt stellt er beide Figuren immer näher zueinander. Ich bitte ihn mal den Satz zu sagen: „Opa ich bin wie Du!“ Erst zögert er, dann stellt er die Figuren ganz nah aneinander und er sagt diesen Satz, vielleicht sogar mit einem Anflug von Stolz: Ich bin wie Du.
Ein nächster Tränenschub bricht aus ihm aus. Er schaut mich an, lächelt und sagt: „Jetzt verstehe ich was Sie gemeint haben. Danke, es hat sich etwas in mir gelöst.“
Ohne weiter über dieses Erlebnis zu reden, verabschieden sich die Beiden. Auch die Frau hat Tränen in den Augen und ich entlasse sie in die sich verändert habende Welt.
Systemische Aspekte können die Arbeit mit Klienten und deren Systeme also wunderbar ergänzen und bieten Raum für neue Erkenntnisse. Gerade die Aufstellungsarbeit und das Bewusstsein darüber, wie Systeme wirken, kann so viel verändern – für den/die Klient/in, die Familie und die Probleme.
In unserer psychoonkologischen Berater-Ausbildung gehen wir immer wieder auf systemische Aspekte einer Erkrankung ein und bekommen tolles Feedback, wie dies auch für die Teilnehmer Situationen lösen konnte. Nun gehen wir einen Schritt weiter und bieten zum ersten Mal auch eine Ausbildung zum systemischen Berater an!
Alle Informationen findest Du auf dieser Seite: Ausbildung Systemische Beratung
P.S. Unser monatliches, kostenloses Webinar dreht sich dieses Mal auch um Systemische Aspekte. Am 22.02.22 um 19:30 Uhr findet es in diesem Zoom-Raum statt. Bist Du dabei?
Dein Thomas
& das TBAcare Team