Ich höre zum Feierabend, kurz nach Schließung der Praxis, gerade den Gefangenenchor aus der Oper Nabucco, als es an der Praxistür klingelt. Ich öffne und finde eine Frau vor, die in Tränen aufgelöst vor der Tür steht. Auf meine Frage, was ihr Anliegen sei, bittet sie mich um eine Sitzung, die sie natürlich auch sofort vergüten möchte und streckt mir einen 100 Euro Schein hin. Also, Nabucco kann warten und die Not scheint groß.
Ich bitte die Frau herein und während sie sich vorstellt und allmählich etwas beruhigt, nehmen wir im Besprechungszimmer Platz. Ich bitte Frau W. zu schildern, um was es geht und was sie für sich erreichen möchte, wenn dieses Gespräch etwas bringen könnte. Wie ich es gewohnt bin, geht sie erstmal nicht auf die Zielvision ein, sondern möchte erstmal ihre Not schildern. Ich lasse sie gewähren.
„Mein Mann hat durch seine ewige Raucherei einen Lungenkrebs bekommen und nun hat trotz Chemo der Tumor in die Leber und ins Gehirn gestreut. Der Arzt hat ihm gesagt, dass dies wohl sein letztes Weihnachtsfest sein wird. Ich bin total fertig. Hätte er nicht auf mich hören können? Ich habe so geschimpft wegen seiner Raucherei. Was mache ich nur, wenn ich ihn verliere? Ich brauche ihn doch. Er ist meine große Liebe. Ich möchte ihn nicht verlieren.“
Hier unterbreche ich.
„Oh, sie spüren gerade Ihre Liebe für Ihren Mann? Erzählen Sie mir doch bitte mehr, was Sie so an ihm schätzen.“
Nach kurzem Hinspüren in dem sie wohl Bilder und Erinnerungen hochgerufen hat, erhalte ich ein wunderbare Liebesgeschichte:
„Wir sind uns auf der Kirmes in meinem Heimatdorf begegnet. Bei den Boxautos. Dort hat er mich eingeladen mitzufahren. Und wir fuhren und fuhren. Er hat irgendwann seinen Arm um mich gelegt und ist mit einer Hand sicher durch die Arena gefahren. Es war so aufregend. Er war in der Lehre zum Installateur und hatte schöne kräftige Hände. Nach der Kirmes hat er mich nach Hause gebracht und vor der Haustür gabs den ersten Kuss. Da wird mir heute noch kribbelig. Er ist so zuverlässig. Ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Auch als die zwei Kinder kamen hat er mich unterstützt und mitgeholfen. Auch in der Küche. Wo gibt’s denn sowas noch heutzutage. Ach ja.“
„Wie geht’s Ihnen, wenn Sie solche Erinnerungen wachrufen? Ich sehe sie gerade etwas ruhiger werden und auch ab und zu lächeln.“
„Ja, das bringt mich auf andere Gedanken, wenn ich an das Gute denke, an die schönen Erinnerungen.“
„Kann Ihnen diese Erinnerungen irgendjemand nehmen?“
„Nein. Die bleiben. Und sie tun gut.“
„Wie wäre das, wenn Sie genau diese Erinnerungen beginnen mit Ihrem Mann zu teilen? Einfach über das Gute in Ihrem gemeinsamen Leben bewahren, vielleicht sogar aufzuschreiben?“
„Sie meinen wir sollten die Zeit, die uns bleibt, dazu nutzen?“
„Ja genau, anstatt Vorwürfe wäre die Erinnerung an Ihre Liebe, die auch über den Tod hinaus bleibt, eine schöne Alternative. Und dann wäre es gut gemeinsam Ihrer beiden Rucksäcke zu packen.
Diese Metapher, den Rucksack für die letzte Reise packen, ist sehr alt und hilft aber auch den Gesunden sich mit der eigenen Endlichkeit einmal auseinanderzusetzen und zu erkennen, dass für uns alle morgen das Leben zu Ende sein könnte und dann wäre es sehr schade, wenn der Rucksack nicht gepackt wäre.“
„Was soll denn in so einen Rucksack hinein, Herr Bach?“
Mittlerweile ist Frau W. ganz ruhig und sachlich geworden. Kein Anflug von Hysterie oder großer Angst. Ihr Wissen um die bleibende Liebe scheint in ihr etwas ausgelöst zu haben.
„Erst einmal ist es so, dass dieser Rucksack auch noch recht lange in der Ecke stehen kann, bis Sie oder Ihr Mann die letzte Reise antreten müssen. Aber wenn es dann irgendwann mal so weit ist, dann sind Sie beide vorbereitet. Was natürlich ganz wichtig ist sind die sogenannten Verfügungen:
- Patientenverfügung,
- Betreuungsverfüguen,
- Vollmachten für Konten,
- medizinische Betreuungsverfügung und natürlich
- ein Testament.
Wie wünschen Sie sich Ihre Beerdigung, wie Ihr Mann? Wo möchten Sie beerdigt werden. Was sind die Passwörter für Ihre Zugänge im Netz? Gibt es Versicherungen, die eine Sterbefallzahlung haben? Was muss alles gekündigt werden? Und das Schwierigste, das ich in meinem Rucksack habe, sind die Briefe an meine Liebsten. Hierin habe ich die wichtigsten Botschaften für jedes meiner Kinder und meine Partnerin aufgeschrieben. Dabei habe ich Rotz und Wasser geheult, aber es ist gut zu wissen, dass meine Kinder das einmal lesen können. Das würde ich Ihnen auch dringend empfehlen. Heutzutage kann man ja auch eine Videobotschaft fertigen mit dem Handy. Aber ein handgeschriebener Brief ist natürlich auch sehr schön. Alles was Ihnen sonst noch wichtig ist der Welt zu hinterlassen, gehört einfach hier in den Rucksack.“
„Oh, das ist ja eine gewaltige Aufgabe, aber ich kann mir vorstellen, dass wir das zusammen machen. Weil wir ja nicht wissen wann wir diesen Rucksack brauchen. Es ist dann nicht so ein ‚ich glaube nicht mehr an Deine Genesung‘ sondern wir machen das jeder für sich und können uns austauschen. Das stelle ich mir auch sehr verbindend vor.“
„Ja, tatsächlich das haben die Menschen, die es getan haben, auch immer wieder erzählt. Die Arbeit am Rucksack hat viel mehr Gegenwärtigkeit erzeugt und die Liebe vertieft.“
Frau W. springt geradezu auf, streckt mir den Hunderter entgegen und verabschiedet sich mit einem Dank und Strahlen auf dem Gesicht, so als wäre der Tod gar nicht mehr so ein erschreckendes Monster.
Ich bedanke mich auch bei ihr und den Hunni habe ich an die Sternenkinder e.V. gespendet, dort war er gut aufgehoben!
In diesem Blogpost zur letzten der 6 Phasen einer Erkrankung geht es genau um diesen Rucksack. Wir empfehlen diese Aufgabe des Rucksackpackens jedem – egal, ob krank oder nicht. Denn niemand weiß, wie es kommt und gerade die Patientenverfügung und solche Bestimmungen, was im Notfall passieren soll, sind für Angehörige oder Hinterbliebene Gold wert.